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Zillo

February 1999

Pages 57, 78, 79, 80

Blondie
“ATOMIC – THE VERY BEST OF”
(EMI)
Ende vergangenen Jahres gaben sie ihre ersten Konzerte seit 15 Jahren. Ihr Comeback-Album “No Exit” erscheint diesen Monat. Das Vermächtnis der süßlichen Gitarren-Disco-Pop-Ikonen Blondie wurde anläßlich der Reunion nun – angereichert mit zwei Remixen von “Atomic” – noch einmal und endlich auch vollständig zusammengestellt. Was zeigt diese Ansammlung anno 1999? Zu allererst die scheinbare Endlosigkeit an steinalten Klassikern: “Heart Of Glass” von 1976, “Hanging On The Telephone” und “Sunday Girl” von 1978, “Dreaming” von 1979, “Call Me” und “The Tide Is High” von 1980. Ein Songtitel sagt dir nichts? Spätestens beim Refrain wirst du vom Dejà Vu ereilt.
Fazit: Es gibt ihn also doch, den zeitlosen, epochenunabhängigen, omnipräsenten Popsong: Denn runde 20 Jahre nach der erstmaligen Veröffentlichung hat keines dieser Stücke an Daseinberechtigung verloren. Warum sonst hätten Sleeper vor zwei Jahren für den “Trainspoting”-Soundtrack “Atomic” covern und dafür mancherorts Lob für einen brillanten neuen Song einheimsen können? Warum sonst hätte die Originalversion selbigen Liedes auch 20 Jahre nach seiner ersten Pressung mit Hilfe eines Coca-Cola-Werbespots noch einmal in die Top 30 der französischen Charts eintreten können? Nun liegt er nur noch an Debbie Harry & Co, sich ihr ruhmreiches Leben als Legende nicht mit einem bescheidenen Reunion-Album zunicht zu machen.
Timo Hoffmann

Blondie
“NO EXIT”
(BMG)
Und tatsächlich… Debbie Harry, mittlerweile 53 Jahre alt, und ihr anscheinend von seiner Blutkrankheit wieder genesener Mann und Gitarrist Chris Stein, 49 Jahre, haben es immerhin geschafft, sich mit ihrem Comeback-Album nicht vollends der Lächerlichkeit Preis zu geben. Im Titelstück lassen Harry, Stein, Burke und Destri gar einen Rapper zu bombastischen Chören, harschen Gitarren und sakralen Orgeln sein Mundgewehr entladen. Damit hat es sich natürlich auch schon mit schockähnlichen Neuerungen – nicht jedoch mit Stücken, die zumindest mit alten Qualitäten überzeugen können: In “Maria” spreizt sich ein glockenheller Refrain zwischen schwermütigem Schlager und großangelegtem Pop. “Nothing Is Real But The Girl” hätte ebenfalls unbemerkt den Platz von einem frühen Blondie-Song wie “Hanging On The Telephone” auf der “Very Best Of” einnehmen können. Das dem verstorbenen Gun Clubber Jeffrey Lee Pierce gewidmete “Under The Gun” sowie “Forgive And Forget” lehnen sich ziemlich an die gepflegte Harmonie der 80er an. Country, Ska und Reggae tauchen in Spurenelementen auf. Die Ambitionen bleiben auf “No Exit”, wie auf den meisten Reunion-Platten, überschaubar, doch ex-Modell Harry und der ehemalige Kunststudent Stein haben es immerhin verstanden, das, wofür sie einst geschätzt bis geliebt wurden, nostalgisch und stilgerecht zu reproduzieren.
Timo Hoffmann


Blondie
Zurück aus der Zukunft

Ihre Alben gelten als Klassiker, sie selbst als erste New-Wave-Band, die sich im Mainstream durchsetzen konnte. Debbie Harry, Chris Stein, Jimmy Destri und Clem Burke sind ihre eigene Legende – und zwar eine äußerst vitale. Nach 16jähriger Pause wagen sie mit “No Exit” ein überraschendes Comeback.

Foto: Nitin Vadukul

Sie war das Sexsymbol der späten 70er: Deborah Harry. Eine Wasserstoffsuperoxid-Blondine aus Miami, Florida, die nach diversen ‘odd jobs’ (Playboy Bunny, Kellnerin, Folk-Sängerin) zur Königin der New Yorker Inn-Crowd aufstieg. Daß sie damals bereits Ende 20 war und Blondie eigentlich nie so recht in die boomende Underground-Szene solcher Lokalitäten wie dem CBGB’s oder Max’s Kanasas City paßten, war aufgrund ihres extravaganten Auftretens denn auch beinahe sekundär. Wie zuvor im Flower-Power und Glam-Rock, war auch in der Wave/Punk-Szene alles erlaubt, was schrill, grell und bunt war und sich vom biederen Allerlei der Charts abhob. “Es war ein ganz anderes Verständnis von Rock-Musik – eben viel progressiver und mutiger”, meint denn auch Drummer Clem Burke. Wie innovativ und einflußreich die damaligen Bands des big apples waren, zeigt sich allein darin, daß die populärsten Vertreter bis heute in der einen oder anderen Form aktiv sind: B-52’s, Cramps, Devo, Talking Heads, Ramones, Pere Ubu, Television, Patti Smith, und, und, und.
Blondie waren schon immer die etwas andere Band in diesem illustren Zirkel. Sie waren glamourös, melodiös und variierten geradezu schlafwandlerisch zwischen Disco, Pop, Rock und Rap. Trotzdem gehörten sie dazu – mehr noch, sie wurden und werden von ihren Zeitgenossen regelrecht angebetet. Das zeigte sich zuletzt im Sommer ’98, als die B-52’s mit der Hommage “Debbie” aufwarteten. Dabei waren Blondie ihren Kollegen immer einen Schritt voraus. Einerseits galten sie als bessere Musiker, die in der Original-Besetzung mit Fred Smith (ex-MC5) und Ivan Kral (Television) gleich zwei legendäre Gitarristen besaßen, zum anderen waren sie die ersten, die flächendeckende Tourneen (mit Iggy Pop und David Bowie) unternahmen und im August 1978 von einem Major-Label (Chrysalis) gesignt wurden. Seitdem tendierten Blondie mehr in Richtung Boheme, ohne jedoch ihre Roots zu negieren. Denn obwohl sie mit “Denis”, “Heart Of Glass”, “Sunday Girl”, “Atomic”, “Call Me” und “The Tide Is High” weltweite Erfolge feierten, waren sie doch stets Teil von beidem – Avantgarde-Zirkel und Schickeria. Bis zu seinem jähen Ende im Herbst ’82 erlebt das Quartett eine phantastische Zeit aus Glitzer und Glamour. Und genau in dieser Welt lebt Debbie Harry noch immer – selbst, dann, wenn diese längst blanke Illusion ist.
Überhaupt ist sie mit 53 Jahren nur noch ein Schatten ihrer selbst – aufgedunsen, lethargisch und verlebt. Ein Rock-Zombie, der mit weit geöffneten Pupillen ins Leere starrt. Rein physisch hockt sie im Proberaum an Manhattens 26. Straße, doch psychisch ist sie ganz woanders: In einer besseren Welt, in der gealterte Rockstars mit Würde behandelt werden – oder aber in seligen Erinnerungen an ihre wilden Jahre in Clubs wie dem legendären “Studio 54”. An ihrer Seite: amerikanische Ikonen aus Literatur, Pop und Kunst – Truman Capote, Frank Sinatra oder Andy Warhol. “Das war ein Heidenspaß”, so Debbie mit glänzenden Augen. Jede Menge Alkohol, Drogen und Sex – eben ein richtig heißer Laden, in den jeder wollte, aber nur wenige eingelassen wurden. Die Betreber haben einen großartigen Job geleistet – sie haben die Menschen glauben gemacht, daß dies der einzige coole Ort der Welt sei. Und das hat funktioniert.”
Momentan erlebt die Kult-Disco übrigens ein Revival – wenn auch nur im Kino. Allerdings ist vom Besuch abzuraten: In Mark Christophers oberflächlicher Sex & Drogen-Soap sind die Charaktere (Mike Myers, Neve Campbell) genau so schwachbrüstig wie die story selbst. Das bestätigt auch Debbie, die studenlang von den guten alten Zeiten schwärmen kann: Die Kollegialität unter den New Yorker Wave und Punk-Bands, das damalige Nachtleben und die Männer, die ihr zu Füßen lagen. Kein Wunder, schließlich galt sie doch als fleischgewordene Sünde: lange blonde Haare, ein hübsches Gesicht, tolle Figur und endlose Beine. Und das hat sie zuweilen schamlos ausgenutzt. “Oh ja!”, strahlt sie und ist auf einmal voll bei der Sache. “Immer, wenn ich nicht weitergekommen bin, habe ich das dumme Blondchen gemimt. Du glaubst nicht, wie sich die Männer zum Affen machen, nur um dir zu imponieren.” Davon ist sie inzwischen 20 Jahre und ebenso viele Kilo entfernt. In weißer Pünktchen-Bluse, grauem Rock und Turnschuhen sieht sie aus wie eine nette Rock-Omi.
Doch Debbie hat ihren Teil vom Kuchen mehr als genossen. Selbst ex-Lover Chris Stein, mit dem sie fast 15 Jahre liiert war, verdreht nur die Augen, wenn man sie auf ihre zahlreichen affären anspricht: Rocksänger, Schauspieler, Tennis-Stars, Maler – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Debbie grinst und betont, sie sei für Komplimente eben immer sehr empfänglich, während sie eine unverblümte Anmache doch eher abschrecke. Das gilt denn auch für die offenherzigen Offerten eines David Bowie, mit dem Blondie 1977 ihre erste US-Tournee bestritt. “Er kam auf mich zu, meinte: ‘Kann ich dich vögeln?’ Ich war wie vor den Kopf gestoßen – was für ein arrogantes Arschloch. Dagegen war Iggy immer ein echter Gentleman, auch wenn er wirklich alles getan hat, um mich ins Bett zu kriegen.”
Dabei hat Debbie nicht nur gute Zeiten erlebt, sondern auch viele schlechte. Waren Blondie die erfolgreichste amerikanische Wave-Band aller Zeiten, so entpuppte sich ihre Solo-Karriere als mittleres Desaster. Trotz vielversprechendem Start mit der Chic-Produktion ‘Koo Koo’ (’81) verlor sie Mitte der 80er rapide an Zugkraft. Und das allein deshalb, weil sie sich aufopferungsvoll um ihren erkrankten Lebensgefährten Chris Stein kümmerte, der aus den rasanten Blondie-Jahren als menschliches Wrack hervorging und zeitweise halbseitig gelähmt war. “Wir haben uns nie eine freie Minute gegönnt, sondern jahrelang durchgearbeitet”, so Chris. “Das hat sich irgendwann gerächt – ich bin regelrecht zusammengebrochen und habe ewig gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen.”
Zudem haben Debbie stets die richtigen Mitstreiter gefehlt, die ihrer charakteristischen Stimme den passenden musikalischen Unterbau verliehen hätten. Denn statt dynamisch, hymnisch und eingängig, wirkte die Solistin Harry doch immer irgendwie verloren. Entweder waren die Songs schlecht oder die Produktion lausig. Nur zwei Mal konnte sich an ihre alte Klasse anknüpfen: Beim ’86er Mini-Hit “French Kissin’ In The USA” und bei der Aids-Benefit-Single “Well, Did You Evah” mit Duett-Partner Iggy Pop. Als sich ihr ’93er Epos “Debravation” trotz hochkarätiger Gäste (u.a. REM) als Flop erwies, gab sie frustriert auf. Debbie sucht die Schuld allerdings weniger bei sich selbst als bei Plattenfirma und Management: “Im Grunde wollten sie doch immer nur Blondie. Weil sie das aber nicht bekamen, ließen sie meinen Vertrag sang- und klanglos auslaufen, ohne auch nur einen Finger für mich zu krümmen. Dabei waren auf den Alben durchaus potentielle Hits vorhanden.”
Nicht viel besser erging es ihr mit der zunächst recht erfolgreichen Film-Karriere. Denn nach Streifen wie “Union City”, “Roadie”, “Videodrome” und John Waters “Hairspray” wagte sie sich fatalerweise an das Broadway Musical “Teaneck Tanzi: The Venus Flytrap”, das 1983 bereits nach einer einzigen Aufführung abgesetzt wurde. Seitdem bleiben die großen Angebote aus. Regelmäßige Auftritte mit den tourfreudigen Fusion-Spezis der Jazz Passengers sind denn auch ihre einzige zuverlässige Einnahmequelle. “Es ist eine ganz andere Musik. Und das gilt auch für die Arbeitsweise und die gesamte Band-Konstellation. Und obwohl ich nicht viel damit verdient habe, war es doch eine wichtige künstlerische Erfahrung.”
Richtig abgestürzt ist hingegen Keyboarder Jimmy Destri. Nach einem einzigen Solo-Album “Heart On A Wall” (’82), zog er sich aus dem Rock-Geschäft zurück, verlegte sich auf das gelegentliche Komponieren drittklassiger Soundtracks und lebt seitdem von den Tantiemen vergangener Tage. Das einzige Blondie-Member, das sich außerhalb der Band behaupten konnte, war Drummer Clem Burke. Der dynamische Mittvierziger mit dem unverbesserlichen Mod-Schnitt erlebte als Studio-Musiker eine regelrechte Traumkarriere. Er spielte mit Bob Dylan, T-Bone Burnette sowie den Eurythmics und war zwischenzeitlich sogar Mitglied bei den Ramones und Dramarama. Doch so richtig glücklich scheint er damit nie gewesen zu sein. Als 1997 erste unverbindliche Gespräche über eine mögliche Blondie-Reunion stattfanden, war er sofort Feuer und Flamme. “Es ist wirklich toll, ein gefragter Session-Drummer zu sein und mit Leuten wie Annie Lennox oder Dave Stewart zu arbeiten. Das war eine unglaublich spannende Sache, bei der ich viel gelernt habe. Trotzdem habe ich die Kameradschaft dieser Band vermißt. Du darfst nicht vergessen, welche Geschichte an ihr hängt – das ist meine zweite Familie. Wir kennen uns seit 1974 und haben eigentlich nie aufgehört, miteinander zu reden. Insofern konnte ich es kaum erwarten, wieder mit ihnen auf Tournee zu gehen.” Die einzigen, die sich von dieser Idee wenig begeistert zeigten, waren Gründungs-mitglied Gary Valentine (Bass) und sein späterer Ersatz Nigel Harrison, der heute eine gehobene Position beim amerikanischen Erfolgslabel “Interscope” einnimmt und gar nicht daran denkt, diese zugunsten einer neuerlichen Musiker-Karriere aufzugeben. Das hat ihn allerdings nicht davon abgehalten, seine einstigen Mitstreiter mit allen erdenklichen Unterlassungsklagen und Abmahnungen zu bombardieren, über die sich Clem nur zu gerne ausläßt. Was wäre der Rock’n’Roll ohne Gerichtsverfahren? Es heißt nicht umsonst Sex, Drugs & Lawsuits. Früher hätten wir so etwas wie richtige Männer ausgetragen – eben mit fliegenden Fäusten. Heute sind wir zivilisierter, da verklagen wir uns gegenseitig, statt uns umzubringen. Scheiße, es geht doch eh nur ums Geld.”
Das gilt allerdings nicht für Chris, Debbie, Jimmy und Clem. Den Vieren geht es weniger um die Aufstockung des eigenen Rentenfonds als um späte Anerkennung. Denn vom dem Dutzend Hits kann es sich zumindest das Songwriter-Duo Harry/Stein bis an sein Lebensende gut gehen lassen. Zumal diese ja immer wieder neu aufgelegt werden. Sei es in Form solch unsäglicher Projekte wie dem ’95er “The Remix Album”, auf dem ihre größten Erfolge von zweitklassigen Techno-Produzenten durch die Remix-Hölle geschickt wurden, oder aber – als Gegenbeispiel – auf ambitionierten Compilations wie der ’94er “Platinum Collection”, an der die Band maßgeblich beteiligt war. “Das Problem ist, daß viele dieser Platten ohne unser Wissen, geschweige denn unsere Zustimmung erscheinen”, ereifert sich Clem. “Und obwohl es Vertragsklauseln gibt, die ihnen das verbieten, tun sie es trotzdem. Du kannst sowieso erst dann dagegen vorgehen, wenn es eigentlich schon zu spät ist, sprich der Remix auf dem Markt ist. Allerdings hat Chris auch den Fehler gemacht, sich nie darum zu kümmern. Wie hätten sicherlich viel mehr Kontrolle über unseren Backkatalog, wenn wir uns nur jemals richtig darum bemüht hätten. Andererseits besteht scheinbar ein ziemlicher Bedarf an diesen Mixen, und es kommt immer etwas Geld rein. Von daher ist es eine zweischneidige Sache.”
Und wie viel Kohle sich mit den alten Kamellen machen läßt, stellten sie einmal mehr zur letzten Fußball-WM fest, als der englische Verband ausgerechnet “Atomic” (von 1980) zur offiziellen Hymne auserkor und dem Quartett einen saftigen Scheck überreichte. “Ich kann mich nicht beschweren”, so Jimmy. “Die Royalties waren sehr großzügig. Hey, du darfst nicht vergessen, daß ich ein Amerikaner bin – also ein verdammter Kapitalist.” Grund genug für Blondie, die Reunion schnellstmöglich zu realisieren. Doch das war leichter gesagt als getan. Nicht nur, daß sich sie Vier mit Harrisons Klage rumärgern durften, sie standen nach der plötzlichen Auflösung von EMI America im Herbst ’97 auch ohne Plattenvertrag dar. Und obwohl sich ihr Comeback-Epos bereits im Endstadion befand, gelang es ihnen doch nicht, eine neue Company zu finden. Aus gutem Grund: Ihr Manager, der legendäre Garry Kurfirst (Eurythmics, Ramones, Live), glänzte mit überzogenen Forderungen, während das Repertoire, das zum größten Teil mit Warren Cuccurullo und Nick Rhodes von Duran Duran entstand, doch eher bescheiden ausfiel. Also machten Blondie Nägel mit Köpfchen, gründeten ein eigenes Label (“Beyond”) und verwarfen das bisherige Material zugunsten neuer Songs. “Es waren gute, solide Stücke, aber nichts wirklich Herausragendes”, wiegt Clem ab. “Ich meine, Nick und Warren sind schon tolle Musiker, aber das Resultat klang einfach nicht nach Blondie. Also haben wir darauf verzichtet.”
Eine weise Entscheidung, erweist sich “No Exit” doch als echte Überraschung. Nicht etwa, weil Blondie irgend etwas Neues präsentieren würden, sondern gerade weil ihr Mix aus Punk und Pop immer noch so charmant und unverbraucht klingt wie vor 16 Jahren. Produziert von Craig Leon und Mark Chapman in den Londoner Abbey Road Studios, sparen sie dabei nicht einmal ihren Faible für HipHop aus. Der Titelsong erweist sich vielmehr als direkte Fortsetzung des ’81er Ohrwurms “Rapture” mit dem berühmten Grandmaster-Flash-Zitat. Dabei liefert sich Debbie ein spannendes Vokal-Gefecht mit Coolio, der – wenn er nicht gerade schwäbische Boutiquen überfällt – wirklich erstklassige Raps spinnt. Jimmy: “In den frühen 80ern standen wir auf diese ganzen ‘Sugarhill’-Acts wie Grandmaster Flash oder auch Mellie Mel. Das war die erste Generation an Rappern. Als danach jedoch dieser ganze Gangster-Scheiß aufkam, verloren wir das Interesse an der Musik. Erst als ich irgendwann ‘Gangster’s Paradise’ hörte, konnte ich mich wieder dafür begeistern. Das war ein toller Song mit einem erstklassigen Chorus in bester Stevie-Wonder-Manier. Und weil Coolio bei derselben Plattenfirma unter Vertrag steht wie wir, was es kein Problem, ihn für diesen Track zu gewinnen.” Übrigens veröffentlicht das New Yorker HipHop-Label ‘Loud’ dieser Tage eine 10-Inch-Single mit Remixen des Titeltracks, an denen u.a. Mitglieder des Wu-Tang Clan beteiligt sind.
Was die kommerziellen Chancen des Albums betrifft, ist es allerdings fraglich, ob Blondie anno ’99 noch einmal an die gigantischen Erfolge der späten 70er/frühen 80er anknüpfen werden. Schließlich ist die erste Single “Maria” zwar ein echter Ohrwurm, aber doch nicht mit den Klassikern des Quartetts zu vergleichen. Außerdem stehen die heutigen Kids doch eher auf wässerigen R&B und stumpfsinnigen Teutonen-Techno denn auf geschichtsträchtige Sounds, die auch Vater und Mutter lieben. Aber Debbie läßt sich davon nicht verunsichern. “Dieses Album folgt einem rein künstlerischen Ansatz. Allein schon deshalb, weil wir heutzutage eh keine Chance hätten, vernünftig vermarktet zu werden. Unser großer Vorteil besteht denn auch darin, daß wir bereits eine gewisse Reputation besitzen, und uns nicht um den kommerziellen Aspekt zu kümmern brauchen. Das Wichtgste ist doch, daß wir ein tolles Album aufgenommen haben, das all unsere Erfahrung und unser Können reflektiert. Wir fühlen uns wohl damit, nicht auf Teufel komm raus Einheiten verkaufen zu müssen oder uns an dem zu messen, was derzeit in den Hitparaden läuft. Ein gewisses Maß an Platten verkaufen wir immer.” Eine kurze Club-Tournee, die sie im November einmal kreuz und quer durch europäische Metropolen führte, scheint ihr Recht zu geben. Die Hallen der 1000 – 2000er Kategorien waren allerorts ausverkauft, die Resonanz beachtlich und auch “Maria” als einziges neues Stück erhielt mehr als nur Höflichkeitsapplaus. Vor allem aber wurde bei den 90minütigen “Greatest Hits”-Sets eines deutlich: Der offenkundige Spaß, den die Band an Musik wie Publikum hatte. Chris: “Ich habe lange gebraucht, um wieder live auftreten zu können. Aber wenn du erst einmal damit beginnst und es einigermaßen läuft, dann kannst du gar nicht genug davon kriegen. Das gilt selbst für mich, der mit dieser mediokren Showbiz-Mentalität so gar nichts anfangen kann”.
Und sollte es mit dem Comeback wider Erwarten doch nicht klappen, hat Frau Harry ja immer noch ihre Schauspielkarriere. Die ist zwar weitestgehend eingeschlafen, doch für kleinere Rollen wird sie immer gerne genommen. So ist sie derzeit in gleich zwei Streifen zu bewundern: In der TV-Produktion “Six Ways To Sunday” agiert sie an der Seite von Isaac Hayes, und in “LA Johns” mimt sie die große Kupplerin Madame Jacquelin. “Das habe ich nur für’s Geld gemacht”, grinst sie. “Die meisten Drehbücher sind heute so schlecht, daß du dir damit nicht einmal den Hintern abwischen würdest.” Und wenn denn wirklich mal etwas Interessantes wie der Krimi “Copland” ansteht, dann wird ihr Part so lange beschnitten, bis sie gar nicht mehr zu sehen ist. “So etwas ist mir noch nie passiert”, schnaubt Debbie. “Diese neuen Regisseure haben einfach keinen Respekt. Aber das gilt für das gesamte Showgeschäft. Trotzdem kann ich einfach nicht die Finger davon lassen. Aber wer weiß, vielleicht beschert mir die Blondie-Reunion ja zumindest ein paar Film-Offerten.”
Marcel Anders

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